Im Zuge der globalen Finanzkrise von 2008 und des darauffolgenden Jahrzehnts niedriger Zinsen flutete eine Liquiditätswelle die europäischen Immobilienkapitalmärkte. Günstige Kreditkonditionen führten zu einem starken Anstieg der Aktivitäten im Immobiliensektor und die im Wert stark gestiegenen Immobilienanlagen dienten sowohl als Inflationsschutz als auch als rentable Kapitalanlage.
Wie aus der kürzlich erschienenen und gemeinsam von PwC und dem Urban Land Institute publizierten Studie Emerging Trends in Real Estate Europe (ETRE) ersichtlich wird, zeichnet sich für die europäischen Immobilienkapitalmärkte gegenwärtig eine Phase der Unsicherheit ab. Basierend auf einer Befragung von rund 1.000 Experten aus der Immobilienwirtschaft sowie zahlreichen Interviews und Roundtables, liefert der ETRE Europe Report wertvolle Erkenntnisse über den gegenwärtigen Stand der europäischen Immobilienkapitalmärkte. Ausgelöst durch die makroökonomischen Entwicklungen auf dem gesamten Kontinent versiegt die Liquidität im Immobiliensektor zunehmend. Betroffene Akteure wie Investoren, Eigentümer und Projektentwickler zeigen sich zunehmend besorgt über die kurzfristigen Auswirkungen und blicken wirtschaftlich herausfordernden Zeiten entgegen.
Verlangsamung auf den europäischen Immobilienkapitalmärkten
In den letzten Jahren strotzte der Immobiliensektor vor Optimismus und es boten sich Finanzierungsmöglichkeiten in Hülle und Fülle. Für das Jahr 2023 deutet sich jedoch das gegenteilige Szenario an und die Einschätzung der Immobilienakteure mit Blick auf die Finanzierung ihrer Projekte durch Fremd- oder Eigenkapital scheint sich erheblich zu verdüstern. Im Hinblick auf das für die Refinanzierung oder neue Immobilieninvestitionen benötigte Eigenkapital glauben 53 % der Befragten an eine Abnahme der Verfügbarkeit im Jahr 2023. Bezogen auf das für Entwicklungsprojekte notwendige Eigenkapital rechnen 63 % mit einer rückläufigen Kapitalverfügbarkeit.
Ein besonders negatives Bild vermitteln die Antworten auf die Frage nach der Bereitstellung von Fremdkapital für Immobilienprojekte: 64 % der Befragten erwarten, dass die Bereitstellung von Fremdkapital sowohl zur Refinanzierung als auch für Neuinvestitionen im Jahr 2023 sinkt, während 70 % der Befragten einen Einbruch bei der Bereitstellung von Fremdkapital für die Projektentwicklung erwarten.
Ähnliche Befürchtungen herrschen auch hinsichtlich ausländischer Investitionsströme in den europäischen Immobiliensektor. Rund 45 % der Befragten rechnen bis 2023 mit einem rückläufigen Kapitalzufluss aus Nord-, Mittel- und Südamerika, 49 % erwarten einen Rückgang aus dem asiatisch-pazifischen Raum. Für den Nahen Osten und Afrika vermuten 44 % der Teilnehmer eine Verringerung der Kapitalzuflüsse. Lediglich einige wenige der Befragten erwarten eine deutliche Zunahme der Investitionen aus Amerika (7 %), dem Nahen Osten und Afrika (4 %), dem asiatisch-pazifischen Raum (4 %) und Europa selbst (1 %). Insgesamt besteht bei allen Stakeholdern die generelle Befürchtung, dass die Möglichkeit, frisches Kapital aus dem Ausland in den europäischen Immobiliensektor zu lenken, im Jahr 2023 erheblich eingeschränkter ausfallen dürfte als in den Jahren zuvor.
Vor dem Hintergrund steigender Zinsen erscheint diese Abschwächung an den Immobilienkapitalmärkten plausibel. Im Dezember erhöhte die Europäische Zentralbank zum letzten und insgesamt vierten Mal innerhalb eines Jahres den Leitzins und dürfte diesen Kurs auch im Jahr 2023 fortsetzen. Solche Steigerungen dämpften den Appetit institutioneller Anleger auf Investitionen in Immobilien.
Nachdem Versicherungsgesellschaften traditionell zu den wichtigsten Kreditgebern der Immobilienwirtschaft zählten, könnte sich diese Situation künftig ändern, da risikoarme Unternehmensanleihen von einer wachsenden Zahl an Unternehmen als attraktivere Anlagemöglichkeit wahrgenommen werden. Auch fremdfinanzierende Investoren zeigen sich angesichts der deutlich gestiegenen Fremdkapitalkosten zunehmend vorsichtiger gegenüber Investments in Immobilien.
Drohende große Not?
Unsicherheit prägt derzeit die Immobilienkapitalmärkte. Steigende Bau- und Rohstoffkosten bremsten die Entwicklung neuer Immobilien und reduzierten die Finanzierungsangebote. Dieser Trend dürfte auch über das Jahr 2023 hinaus anhalten. So rechnen 75 % der Befragten mit einem Rückgang der Verfügbarkeit von Finanzmitteln im Jahr 2023 infolge der zu erwartenden Rezession, weitere 86 % mit einem Rückgang der Entwicklungstätigkeit.
Einige Akteure der Branche betrachten die Verlangsamung der Entwicklung und Finanzierung als eine potenziell positive Entwicklung für Bestandsimmobilien und deren Eigentümer, da die zunehmende Verknappung des verfügbaren Wohnraums Mietsteigerungen rechtfertigen würde. Eine solche Perspektive verkennt jedoch die Pflichten der Eigentümer, die Netto-Null-Ziele zu erreichen und den Wert ihrer Anlagen sowie deren Attraktivität für potenzielle Mieter zu gewährleisten.
Die Frage nach der Finanzierung der Dekarbonisierung bestehender Anlagen durch Nachrüstungen oder Renovierungen bleibt bestehen. Steigende Lebenshaltungskosten in ganz Europa erschweren es privaten Haushalten zunehmend, ihre Mietzahlungen zu begleichen, was möglicherweise viele Betroffene in erschwinglichere Wohnmöglichkeiten drängt und es den Eigentümern dieser Immobilien erschwert, Nachmieter zu gewinnen. Gebäudeeigentümer, die den Umbau ihrer Bestandsimmobilien in energieeffiziente, „grüne Gebäude“ versäumen, riskieren die Überalterung und den langfristigen Wertverfall ihrer Objekte, insbesondere angesichts der zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels und extremer Wetterereignisse auf unzureichend gerüstete Immobilien.
Ein Teufelskreis mit absehbarem Ende
Die europäischen Immobilienkapitalmärkte befinden sich derzeit in einem Teufelskreis: Das volatile, durch steigende Zinsen, Inflation und Erschütterungen in der Lieferkette geprägte makroökonomische Umfeld, erschwert zahlreichen Kreditgebern und Investoren die Tilgung ihrer Kredite. Potenzielle Hauskäufer verschieben ihre Kaufpläne und Immobilientransaktionen sowie -entwicklungen verzeichnen einen allgemeinen Abwärtstrend. Während Hausbesitzer einen Wertverlust ihrer Immobilien spüren, verringert sich für Finanzinstitute die Kapazität zur Bereitstellung von Krediten oder der Finanzierung von Maßnahmen, um die Widerstandsfähigkeit des Sektors gegenüber dem Klimawandel zu stärken und „braune“ in „grüne“ Gebäude umzurüsten.
Ungeachtet eher trüber Aussichten herrscht unter den Akteuren jedoch weitgehend Einigkeit über die vergleichsweise geringe Gefahr eines vollständigen Zusammenbruchs der Immobilienbranche in ähnlichem Ausmaß der globalen Finanzkrise von 2008. Möglicherweise stellt die derzeitige Krisensituation retrospektiv sogar einen entscheidenden Schlüsselmoment für die Immobilienbranche dar, sich den globalen Herausforderungen in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (ESG) zu stellen und einen aktiven Beitrag zur Begegnung des Klimawandels zu leisten. Auch wenn solche seismischen Transformationen des Sektors nicht über Nacht erfolgen, besteht dennoch Anlass zur Zuversicht, dass nachfolgende ETRE-Reports das Jahr 2023 als den Moment markieren werden, in dem Immobilienakteure aus einem Moment der Krise eine Chance für die Zukunft schufen.
28. Juni 2023
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Dariush Yazdani
Dariush Yazdani leitet das AM Market Research Centre innerhalb von PwC Luxembourg. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Finanzdienstleistungsbranche und hat verschiedene Forschungs- und Thought-Leadership-Studien geleitet und war zudem in der strategischen Beratung von Kunden tätig.