Interne Verschiebungen in der europäischen Immobilienwirtschaft

Vor etwas mehr als einem Jahr stand Europa erstmals seit den 1990er Jahren erneut an der Schwelle eines Krieges. Neben unsäglichem menschlichen Leid verursachte der russische Einmarsch in der Ukraine erhebliche Erschütterungen in den langjährigen Lieferketten und trieb die seit Ende 2021 zu beobachtende, leichte Inflation in alarmierende Höhen. Im Juni 2022 kämpfte die Eurozone mit einer jährlichen Inflationsrate von 8,6 %, was letztlich die Europäische Zentralbank dazu veranlasste, die Zinssätze mehrfach zu erhöhen. Einen Monat später erklomm die Inflation im Euroraum sogar einen Höchststand von 10,6 %.

Steigende Zinsniveaus und die anhaltende Inflation zwingen europaweit etliche Haushalte zunehmend höhere Anteile ihres monatlichen Einkommens für die Tilgung ihrer Hypothekendarlehen aufzuwenden, während zahlreiche Projektentwickler ihre Vorhaben vorerst auf Eis legten. Für die Immobilienwirtschaft schafft dieses ungewöhnlich hohe Zinsumfeld enorme Herausforderungen, nachdem die EZB die Zinsen erstmals seit dem Jahr 2011 anhob.

Im Anschluss an den gemeinsam vom Urban Land Institute und PwC veröffentlichten Artikel zu Emerging Trends in Real Estate – Europe 2023, befasst sich dieser Beitrag mit den massiven Veränderungen, die die Immobilienbranche in Europa in den letzten Jahren prägten. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der zunehmenden Verflechtung des Sektors mit anderen Wirtschaftssektoren und den erheblichen Veränderungen auf der Angebotsseite.

Ein zunehmend ineinander verwobener Sektor

Vor dem Hintergrund steigender Energiepreise in Europa im Jahr 2022 überrascht es kaum, dass die Akteure der Immobilienwirtschaft insbesondere neuen Energieinfrastrukturen als zentraler Sektor besondere Bedeutung beimessen. Zahlreiche der befragten Akteure bestätigten, selbst bereits erste Investitionen in Batteriespeichersysteme zu tätigen. Ein Betreiber eines privaten Immobilienunternehmens träumt sogar von der Vision, Gebäude in naher Zukunft zu autarken Kleinkraftwerken zu erweitern und überschüssige Energie in das Stromnetz einzuspeisen. Das steigende Interesse an Energieinfrastruktur unterstreicht die bedeutende wirtschaftliche Rolle des Immobiliensektors bei der Umstellung auf grüne Energie.

Über neue Energieinfrastrukturen hinaus interessieren sich die Stakeholder der Immobilienbranche verstärkt für Rechenzentren, Sozialwohnungen, Altersheime und Seniorenresidenzen. Die exponentiell wachsenden Datenmengen schaffen einen erhöhten Bedarf an Rechenzentren zur Speicherung und Verarbeitung von Daten. Manche Eigentümer von Industrieanlagen planen daher die Umrüstung von Hallenflächen in Rechenzentren.

Auch der soziale Wohnungsbau entwickelte sich dank der zunehmenden Förderung durch staatliche Subventionen zugunsten einkommensschwacher Haushalte zu einem attraktiven Investitions- und Entwicklungsfeld für Akteure des Immobiliensektors. Die demografische Entwicklung in Europa rückt aufgrund der steigenden Bedürfnisse und Anforderungen einer alternden Bevölkerung ebenfalls zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit. Folglich wächst das Interesse an Gesundheitseinrichtungen und Seniorenwohnungen bzw. betreutem Wohnen und es werden zunehmend Investitionen in diese Bereiche gelenkt.

Gleichwohl bleiben Unsicherheiten in einzelnen Sektoren weiterhin spürbar. Unter den traditionellen Gewerbeimmobilien bildet das Bürosegment sowohl gemessen am aktuellen Immobilienbestand als auch am europäischen Investitionsvolumen den größten Einzelbereich. Im Zuge des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie und der anschließenden Verbreitung flexibler Arbeitsformen und des Home Office nahmen Investitionen in Büroimmobilien jedoch kontinuierlich ab. In der Rangfolge der Investitionsobjekte rangieren suburbane Büroflächen mittlerweile an letzter Stelle, abgeschlagen hinter Einkaufszentren und Einzelhandelsstandorten am Stadtrand.

Im Allgemeinen zeigt sich, dass Gebäude und Projektentwickler, die ökologische, soziale und Governance-Grundsätze (ESG) integrieren, eine Schlüsselrolle bei der Bestimmung der erfolgreichsten Immobilien einnehmen – sowohl im Jahr 2023 als auch in den Jahren danach. Die Finanzierung dieses Wandels hin zu einer nachhaltigeren Infrastruktur bleibt jedoch ungeachtet der konkreten Finanzierungsquelle aus öffentlicher oder privater Hand eine Herausforderung.

Immobilien für die Welt des 21. Jahrhunderts

Erhebliche demografische Verschiebungen, der Klimawandel, die technologische Dynamik, neue Konsumgewohnheiten und Lebensstile sowie die anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und des Krieges in der Ukraine stellen die Immobilienwirtschaft vor enorme unmittelbare Herausforderungen. Dennoch blicken viele Befragte über den kurzfristigen Zeithorizont hinaus. Nahezu die Hälfte der Befragten äußerte sich sehr besorgt über die drohende Überalterung. Die ökologische Nachhaltigkeit, ein Schlüsselfaktor für die Alterung, stellt infolgedessen ein drängenderes Problem als die steigenden Baukosten dar.

Dennoch scheint sich innerhalb der Branche ein gewisses Maß an Leugnung festzusetzen. Obwohl 81 % der Befragten erwarten, dass ESG-Kriterien in den nächsten 12 bis 18 Monaten einen entscheidenden Einfluss auf die Bewertung von Vermögenswerten ausüben werden, vertreten einige Stakeholder weiterhin die Ansicht, es gebe derzeit keine Anzeichen für einen Rückgang des Marktwerts von „braunen“ bzw. energetisch ineffizienten Gebäuden.

Ungeachtet aller Unsicherheiten befürworten die Mehrzahl der befragten Branchenführer ausdrücklich das Prinzip der optimalen Zweckmäßigkeit und investieren daher in langfristige Lösungen, um ihre Vermögenswerte – seien es Wohngebäude, Büroräume oder andere – in Einklang mit diesen Erfordernissen zu bringen. Die finanzielle Rentabilität der Investitionen beruht ferner auf der optimalen Ausstattung und Lage der Bürogebäude. Nur so können die durch die „Umweltprämie“ ermöglichten Mietsteigerungen realisiert werden.

Auch das Konzept der Standortgestaltung, das die Schaffung eines für Arbeitnehmer und Bewohner gleichermaßen attraktiven und motivierenden Umfelds umfasst, rückt zunehmend in den Fokus der Wirtschaftsakteure. Die adäquate Umsetzung des Konzepts trägt zum privaten und beruflichen Erfolg der Mieter bei und eröffnet ihnen Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. „Die Gestaltung des Ortes ist wichtiger als das Gebäude selbst“, konstatiert ein pan-europäischer Immobilienmanager.

In der für den Bericht durchgeführten Studie geben etwa zwei Drittel der Befragten an, dass die Anpassung oder Nachrüstung eines bestehenden Gebäudes als die attraktivste Möglichkeit sei, um hochwertige Vermögenswerte zu erwerben. Hierbei erfolgt entweder eine Anpassung einer Anlage an eine ähnliche Nutzungsart oder eine vollständige Neukonzeption der Immobilie. Die Umfrage zeigt außerdem, dass diese Umfunktionierung bestehender Immobilien einen Aufwärtstrend aufweist: 54 % der Befragten haben im Vergleich zum Vorjahr mehr Gebäude in ihrem Portfolio angepasst. Ebenso gehen mehr als drei Viertel der Befragten davon aus, dass sie in fünf Jahren mehr Gebäudeanlagen funktionell verändern werden.

Auch wenn zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht absehbar ist, inwieweit die Bewertung „brauner“ Gebäude tatsächlich signifikant nachgeben wird, so wächst doch bei den Immobilienakteuren die Hemmschwelle, in Immobilien ohne Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien und insbesondere ohne Netto-Null-Zertifikate zu investieren. Diese Entwicklung reflektiert die Anpassungsprozesse der Branche aufgrund veränderter Kundenbedürfnisse, zunehmender regulatorischer Eingriffe und fortschreitender globaler Umweltveränderungen.

Der Immobiliensektor wandelt sich zunehmend zu einer Dienstleistungsbranche. Entwickler von Immobilienprojekten agieren verstärkt operativ und erweitern ihren Kompetenzbereich, um den steigenden Anforderungen und Bedürfnissen der Mieter zu genügen. Angesichts der globalen Klimakrise rückt die soziale und ökologische Verantwortung der Unternehmen zunehmend in den Fokus der Branche. Darüber hinaus erkennen Stakeholder die ökologischen Konsequenzen des Sektors an und erachten „grüne“ Gebäude zunehmend als den wegweisenden Faktor der Zukunft.

 

 

26. April 2023

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