Das Jahr 2023 beginnt mit einer sich abzeichnenden weltweiten Rezession am Horizont. In den Vereinigten Staaten erleben die Beschäftigten in der Technologiebranche – von Start-ups bis hin zu etablierten Tech-Giganten – eine Entlassungswelle nach der anderen. Mit der Ankündigung für zukünftigen Stellenabbau scheint der Bankensektor diesem Beispiel zu folgen. In Europa stabilisieren sich die Energiepreise, allerdings führt die hartnäckige Inflation zu einem anhaltenden Anstieg der Lebenshaltungskosten. Auch wenn das Eurogebiet eine Rezession vermeiden könnte, sind die Auswirkungen der geldpolitischen Straffung noch nicht in vollem Umfang zu spüren. Darüber hinaus erweist sich der Krieg in der Ukraine als ein langwieriger Konflikt, der sich beständig auf die globale Lebensmittelsicherheit und die Lieferketten in zahlreichen Sektoren auswirkt.
Wie hat sich die Immobilienbranche in Europa inmitten solch erheblicher makroökonomischer Entwicklungen verändert? Was sind die wichtigsten Herausforderungen und Sorgen, mit denen die Akteure der Branche konfrontiert sind? Welche Prioritäten hat der Sektor für die nahe Zukunft?
Um diese Fragen zu beantworten, haben sich PwC und das Urban Land Institute erneut zusammengetan, um die neue Ausgabe des wegweisenden Berichts – Emerging Trends in Real Estate Europe (ETRE) – für das Jahr 2023 zu erstellen. Der Bericht basiert auf den Ansichten von 1.038 in Europa ansässigen Fachleuten der Immobilienbranche. Mit einer Umfrage, Interviews und Gesprächsrunden liefern die gesammelten Informationen tiefe Einblicke in die momentane Situation und die zukünftigen Trends des Wirtschaftszweiges.
Makroökonomische Probleme und Ungewissheiten
Was die makroökonomische Entwicklung betrifft, blicken nur wenige Fachleute in der europäischen Immobilienbranche optimistisch in die nahe Zukunft. Angesichts der Erschütterungen langjähriger Lieferketten durch die COVID-19-Pandemie, den Krieg in der Ukraine, und der steigenden Kreditkosten, die sich sowohl auf beide Seiten des Marktes auswirken, ist es nicht überraschend, dass die Befragten sich auf eine Korrektur einstellen. Unter allen Befragten erhält besonders der erhebliche Anstieg der Rohstoffkosten für den Immobiliensektor eine erhöhte Aufmerksamkeit.
Etwa drei Viertel der Befragten glauben, dass Europa im Jahr 2023 mit einer Rezession konfrontiert sein wird. Dabei sind starke regionale Unterschiede zu beobachten, während 83 % der Befragten in Deutschland, 82 % im Vereinigten Königreich und 79 % in den Niederlanden, eine Rezession vor Ende 2023 sehr wahrscheinlich ansehen, sind in Italien und Frankreich nur 50 % bzw. 45 % dieser Meinung. Hierfür sind die regionalen Einflüsse der schwankenden Energiepreise und der unterschiedliche Grad der Anfälligkeit für Schocks innerhalb von Lieferketten die Grundlage für die divergierenden Ansichten der Befragten.
Was die Inflation betrifft, so sind die Befürchtungen nahezu identisch: 91 % der Befragten sind etwas oder sehr besorgt über die Inflation im Jahr 2023. Mit 92 % der Befragten mit hoher Besorgtheit zeichnet sich Ähnliches bei den Baukosten ab. Auch die Verfügbarkeit von Ressourcen und Baumaterial wird von einer großen Mehrheit von 84 % der Befragten mit hoher Besorgtheit beobachtet. Nachdem die Europäische Zentralbank im Dezember 2022 erneut die Zinssätze angehoben hat, ist es nicht überraschend, dass 89 % der Befragten etwas oder sehr besorgt über die künftige Zinsentwicklung das Jahr 2023 beginnen.
Letztendlich ist das schleppende Wirtschaftswachstum eine der Hauptsorgen der Fachleute in der europäischen Immobilienbranche. Unter den Befragten sind 88 % für den Europäischen bzw. 81 % für den globalen Markt etwas oder sehr über das für 2023 antizipierte, schleppende Wachstum besorgt.
Interessanterweise haben 67 % der Befragten in der letztjährigen Ausgabe des ETRE-Europe-Berichts die Cybersicherheit als ein zentrales Thema angesehen. Im 2023er Pendant rückt dieser Punkt in den Hintergrund und wird nur noch von 48 % der Befragten als zentrales Thema angesehen. Daher wird angenommen, dass sich die Branche in Europa im Vergleich zu vergangen Jahren ihr Augenmerk diversifiziert hat. Daraus ergibt sich ein Schwenk von einem vermehrten Fokus auf makroökonomische Fragen auf die Cybersicherheit, speziell um gut gerüstet für Cyberbedrohungen zu sein.
Prioritäten für die Immobilienwirtschaft
Wie Untersuchungen von PwC und jüngste Artikel in FONDSTRENDS.LU zeigen, ist der Trend zu Umwelt-, Sozial- und Governance-Aspekten (ESG) in der Vermögensverwaltung seit einigen Jahren ungebrochen. Auch in der Immobilienbranche hat sich der ESG-Trend wenig überraschend durchgesetzt. Der voranschreitende Klimawandel zeigt allmählich schwerwiegende materielle Auswirkungen auf, gar verlangt er nach nachhaltigen und umweltfreundlichen Gebäuden, welche darüber hinaus finanziell verstärkt mehr Sinn ergeben.
Die Mehrheit der Umfrageteilnehmer in Europa ist der Ansicht, dass die Führung eines ökologisch und sozial nachhaltigen Unternehmens eine wichtige Priorität einnimmt. Für 2023 gaben 55 % der Befragten an, dass ökologische Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung wichtige Bestandspunkte sind. Dabei soll diese Anzahl der Befragten auf ein Niveau von 64 % in den nächsten drei bis fünf Jahren ansteigen.
Mit dem Versuch, sozialökonomische Gerechtigkeit direkt zu adressieren, wird die soziale Komponente von ESG für Akteure zunehmend an Priorität gewinnen. Dabei stellen sich Fragen zur sozialen Vielfalt, Gleichberechtigung und Integration, die durch Bedenken über erschwinglichen Wohnraum, steigenden Energiepreisen, geringfügigen Wohnraum mit minderwertiger Ausstattung und der Diskriminierung von Randgruppen hervorgerufen werden.
Beispielsweise nehmen 61 % der Befragten an, dass der Zugang zu erschwinglichen Wohnungen in den kommenden drei bis fünf Jahren an Bedeutung gewinnen wird. Zudem gaben 50 % der Befragten an, dass sie sich im Jahr 2023 aktiv mit sozioökonomischen Maßnahmen befassen werden. Im Zusammenhang mit sozialen Themen gehen 77 % aktiv gegen geschlechtsspezifische Diskriminierung und 43 % gegen LGBTQ+-Diskriminierung vor.
Während 46 % der Befragten der Meinung sind, dass besonders die soziale Komponente Anfang 2022 an Bedeutung gewinnen wird, erwarten 62 %, dass diese zeitnah noch bedeutsamer werden. Darüber hinaus glauben 63 % der Befragten, dass die Bereitstellung von Gemeinschaftsräumen und öffentlichen Einrichtungen für Mieter in den nächsten drei bis fünf Jahren in den Vordergrund treten wird.
Wenn es um die langfristige Entwicklung der Immobilienbranche geht, ist die ESG-Dynamik insgesamt sehr präsent: 59 % der Befragten sind der Ansicht, dass die Führung eines umwelt- und sozial-verantwortlichen Unternehmens für die Transformation der Branche in den nächsten zwei Jahrzehnten sehr wichtig sein wird, des Weiteren halten 35 % dies für eher wichtig. Zudem gaben 36 % der Befragten an, dass es sehr wichtig für sie ist, neben finanziellen Erträgen auch soziale Auswirkungen zu erzielen, daneben wird dies von 51 % als eher wichtig betrachtet.
Zukünftige Chancen
Wie für die meisten Segmente der europäischen Wirtschaft hat sich das Jahr 2022 auch für die Immobilienbranche als ein Jahr mit steigenden Herausforderungen erwiesen. In einem Marktumfeld geprägt von makroökonomischer Volatilität, Inflation und kriegsbedingten Unterbrechungen der Versorgungsketten stieg die Verunsicherung bei den führenden Akteuren erheblich an. Der sprunghafte, aber kontinuierliche Anstieg der Zinssätze hat bereits zu einer Verlangsamung in der Immobilienbranche geführt. In Verbindung mit der prognostizierten Rezession – oder einer möglichen Stagflation – könnte Europas langanhaltender Immobilienboom 2023 zu Ende gehen.
Die Schatten, den die wachsende ökonomische Ungewissheit und die potenziell niedrigeren Renditen über die Branche werfen, sollten jedoch nicht als Anlass zur Verzweiflung gesehen werden. Stattdessen sollten die Akteure der Immobilienbranche die aktuelle Situation als einen geeigneten Zeitpunkt betrachten, um die aus der ESG-Dynamik entwickelten Chancen zu ergreifen. Besonders in Bezug auf den essentiellen Beitrag der Branche zum Lebensstandard der Menschen und der wichtigen Rolle für die Energiewende und den Kampf gegen den Klimawandel, ist dies von enormer Bedeutung.
“Grüne Gebäude“ – Immobilien, die CO2-neutral sind oder über Solarzellen autark Strom erzeugen – gelten als mehr als nur eine Kernanforderung für den globalen grünen Wandel. Nicht nur sind diese Bauten weitaus langlebiger, effizienter und langfristig wertvoller als ihre „braunen“ Pendants, sondern ihr Bau schafft auch viele Arbeitsplätze. Dies wiederum leistet einen entscheidenden Beitrag zur allgemeinen sozioökonomischen Entwicklung. Laut der nationalen Statistikbehörde, betrug der Anteil der „grünen Wirtschaft” im Jahr 2020 mit insgesamt 22.453 Arbeitnehmern 3 % des luxemburgischen BIPs. Aus den veröffentlichten Zahlen derselben Quelle ergibt sich auf Basis von den beobachteten 1,7 % des BIPs und den 10.292 Arbeitnehmern im Zeitraum 2008-2017 ein Anstieg. Dieses Wachstum wurde vor allem durch den Ausbau der „grünen Gebäude“ in Luxemburg generiert.
Dennoch hat die ESG-Transformation der europäischen Immobilienbranche gerade erst begonnen, was angesichts der Tatsache, dass die öffentliche Politik in ganz Europa zunehmend in die nachhaltige Richtung abzielt, Sinn ergibt. Hervorzuheben ist der EU-weite European Green Deal, welcher den erwarteten Wandel in den kommenden Jahren untermauert, wenn nicht sogar beschleunigt.
22. März 2023
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Dariush Yazdani
Dariush Yazdani leitet das AM Market Research Centre innerhalb von PwC Luxembourg. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Finanzdienstleistungsbranche und hat verschiedene Forschungs- und Thought-Leadership-Studien geleitet und war zudem in der strategischen Beratung von Kunden tätig.