ESG-Ratings: Welche Fragen sich Anleger*innen stellen sollten

Nachhaltigkeit erobert den Mainstream-Finanzmarkt. Damit gewinnt auch die Nachhaltigkeitsbewertung von Unternehmen an Bedeutung.

Die zunehmende Relevanz dieser sogenannten ESG-Ratings ist auch der Politik nicht verborgen geblieben: Die EU-Kommission schrieb eine Marktstudie aus, den Zuschlag erhielt laut Branchenmedien das britische Beratungsunternehmen sustainAbility. An sich ist dies natürlich eine begrüßenswerte Entwicklung. Schließlich sollten nachhaltige Geschäftsmodelle von Investoren gefördert werden. Doch ein näherer Blick auf diese Ratings ist ratsam. Das zeigt nicht zuletzt der erste Rechtsstreit zwischen einem Anbieter von ESG-Ratings sowie dem von ihm bewerteten Unternehmen. Anleger*innen sollten verschiedene Aspekte und Fragen im Blick haben:

Welchen Einfluss haben die Geschäftsziele des Research-Anbieters auf ESG-Ratings?

Zu Beginn der 2000er-Jahre war der Markt für Nachhaltigkeits-Research von zahlreichen kleinen Häusern geprägt. Viele von ihnen verfolgten einen ethischen Ansatz. Zwei Beispiele: Die oekom research AG (heute ISS ESG) entwickelte ihr Bewertungsverfahren aus dem Frankfurt-Hohenheimer Leitfaden, einem ethischen Kriterienkatalog, der von Ökonomen, Philosophen und Theologen entwickelt wurde. Das französische Haus Vigeo (heute Vigeo Eiris) wurde 2002 gemeinsam von Investoren, Gewerkschaften und Unternehmen gegründet, um die soziale und ökologische Verantwortung von Unternehmen zu ermitteln.

Im Laufe der vergangenen zehn Jahre haben sich die Marktstrukturen radikal verändert. Schritt für Schritt betraten große amerikanische, börsennotierte Finanzdienstleister die Bühne, mit ihrer Finanzkraft kauften sie nach und nach kleine Anbieter auf: 2010 kaufte MSCI Riskmetrics, 2016 erwarb S&P Trucost, 2017 beteiligte sich Morningstar an Sustainalytics, 2018 schluckte ISS die oekom Research AG und vergangenes Jahr übernahm Moody’s Anteile am britisch-französischen Haus Vigeo Eiris. Die Folge: Heute zeichnet sich der Markt durch ein Oligopol weniger Anbieter aus, die mittlerweile allesamt in amerikanischer Hand liegen.

Quelle: Dr. Judith Ströhle: Die Ursprünge unterschiedlicher Ratingansätze. Erschienen in: Absolute Impact, Ausgabe 04/2019.

Es stellen sich Fragen: Inwieweit bewahren die neuen Eigentümer die ursprüngliche ethische Motivation ihrer Akquisitionen? Viele Research-Häuser betonen zunehmend das finanzielle Risiko schwacher Umwelt- und Sozialleistungen von Unternehmen und Staaten. Geht es also bei ESG-Ratings darum, das finanzielle Risiko von Nachhaltigkeitskriterien aufzuzeigen? Oder sollen jene Unternehmen am besten bewertet werden, deren Geschäftsmodell zukunftsweisende Lösungen haben? Je nach Antwort können ESG-Ratings stark variieren.

Fördert die derzeitige Abdeckung von ESG-Ratings am Markt die Finanzierung wirklich nachhaltiger Geschäftsmodelle?

Viele nachhaltige Fondsanbieter und Investoren richten sich nach Benchmarks. Bei Aktienfonds ist das häufig der MSCI World Index. Das Auswahlverfahren beginnt also damit, dass die Anbieter von den rund 1.600 Indextiteln diejenigen mit dem schlechtesten ESG-Rating aussortieren. Aus den verbliebenen Titeln setzen sie dann ihr Portfolio zusammen. Um für Fondsanbieter und Investoren überhaupt in Frage zu kommen, müssen Research-Anbieter die ESG-Ratings aller Unternehmen großer Indizes bereitstellen. Ihr Fokus liegt demnach auf großen börsennotierten Unternehmen. Kleinere Unternehmen fallen häufig durch das Raster, da sie aufgrund mangelnder Handelbarkeit oder zu hohem finanziellen Risiko seltener nachgefragt werden. Das klassische Prinzip von Nachfrage und Angebot eben.

Quelle: Coffey, Brendan, Here Are Fund Managers’ Favorite ESG Stocks (2019).

Doch müssen für den Weg zu mehr Nachhaltigkeit nicht neue Geschäftsmodelle gefördert werden? Muss das Geld nicht dorthin fließen, wo es tatsächlich gebraucht wird – in kleine, junge Unternehmen, die ein zukunftsweisendes Geschäftsmodell haben; Unternehmen, die über Anleiheemissionen oder Kapitalerhöhungen frisches Kapital einnehmen und direkt in wirkungsstarke Projekte investieren? Sollte nicht die Zukunftsfähigkeit eines Geschäftsmodells anstelle der Börsenkapitalisierung der Ausgangspunkt eines Investmentprozesses sein? Würde sonst nicht eher der Status quo gefördert? In welcher Weise haben Research-Häuser darauf eine Antwort?

Scoring-Modelle mit hoher Divergenz

Anbieter von ESG-Scorings müssen sich immer wieder gegen den Vorwurf wehren, ihre Bewertungen seien unpräzise und würden stark voneinander abweichen. Während die Ratings großer Kreditratingagenturen in der Regel sehr nahe beieinander liegen, sei die Korrelation von ESG-Ratings vergleichsweise gering. Dafür gibt es viele Gründe. Während Kreditratings nur die Kreditausfallwahrscheinlichkeit messen und auf standardisierten Verfahren beruhen, spielen bei ESG-Ratings unterschiedliche Faktoren eine Rolle:

  • Zielsetzung des Ratings: Es gibt unterschiedliche Zielrichtungen eines ESG-Ratings. Anleger*innen sollten sich fragen: Zielt das Rating darauf ab, finanzielle Risiken zu vermeiden, die sich aus ESG-Aspekten ergeben? Oder soll es Unternehmen ermitteln, die eine hohe ökologische und soziale Wirkung erreichen?
  • Gewichtungen von ESG-Kriterien: Es gibt keinen Standard, nach dem bestimmte Umwelt- und Sozialaspekte berücksichtigt und gewichtet werden sollen. Je nach Ziel des ESG-Ratings kann dies erheblich variieren. Manche Anbieter gewichten Sozialaspekte höher, andere Umweltaspekte. Einer der Hauptkritikpunkte an der EU-Taxonomie ist derzeit, dass Klimaaspekte einen zu hohen Einfluss haben und Sozialaspekte nur im schwachen Maße Beachtung finden.
  • Qualität und Verfügbarkeit von Daten: Die Qualität der berichteten Daten kann sich von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterscheiden. Große multinationale Konzerne haben häufig ein umfassendes Berichtswesen, mit dem sie umfangreich über ihre ESG-Leistungen Auskunft erteilen. Bei kleineren Unternehmen fehlen nicht selten die Kapazitäten, um sich mit den Anforderungen an ESG-Reportings auseinanderzusetzen. Deswegen wird am Markt kolportiert, dass es eine positive Verzerrung von ESG-Ratings für große Unternehmen gäbe. Anleger*innen müssen also vor allem bei kleinen Unternehmen sehr genau hinterfragen, ob eine schlechte Bewertung auf schwache Sozial- oder Umweltleistungen zurückzuführen ist oder schlichtweg auf fehlende Angaben.
  • Betrachtungsweise: Manche Anbieter nehmen innerhalb einer bestimmten Gruppe an Unternehmen (Indizes, Branchen, Rating-Universum) eine relative Verteilung von ESG-Ratings vor. Das Ergebnis ist dann einer Standardnormalverteilung sehr ähnlich. Das wäre wie das Ergebnis einer Klassenarbeit, bei der es genauso viele Einser wie Sechser, Zweier wie Fünfer, Dreier wie Vierer gibt – der Notenschnitt läge in der Mitte. Demgegenüber gibt es Anbieter, die unabhängig von solchen Gruppen eine absolute ESG-Bewertung vornehmen. Um im Bild der Notenverteilung zu bleiben, gäbe es vielleicht keine Einser und Zweier, dafür einige Dreier und Vierer und sehr viele Fünfer und Sechser – der Schnitt wäre demnach sehr viel schlechter.

Quelle: Eccles, Robert G. and Stroehle, Judith, Exploring Social Origins in the Construction of ESG Measures (July 12, 2018). Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=3212685.

Fazit – wie die GLS Bank zu ESG-Ratings steht

Die ESG-Bewertung von Unternehmen wird immer relevanter am Kapitalmarkt. Dies ist ein richtiger und wichtiger Schritt, um Unternehmen zu nachhaltigerem Handeln zu bewegen. Jedoch sollten Anleger*innen die unterschiedlichen Motivationen und Methoden der Anbieter von ESG-Ratings am Markt hinterfragen. Die GLS Bank selbst überprüft jedes Investment im Detail auf sozialökologische Kriterien. Statt allerdings quantitativ Plus- und Minuspunkte zu verrechnen, wählt die Bank die Einzelfallentscheidung als bewusstes Arbeitsprinzip. In einem interdisziplinär zusammengesetzten Anlageausschuss diskutieren und entscheiden renommierte Nachhaltigkeitsexpert*innen auf Basis von quantitativen und qualitativen Indikatoren, ob Unternehmen in das GLS-Anlageuniversum aufgenommen werden oder nicht. Dies mag auf den ersten Blick wenig systematisch wirken. Aber es beugt einem mechanischen und einseitigen Bewertungsschema vor. Schließlich kann ein ESG-Scoring nie die realen Gegebenheiten eines Unternehmens in seiner Komplexität erfassen.

Statt also ausschließlich auf ESG-Scorings zu vertrauen, stellen die Expert*innen die Nachhaltigkeit des Geschäftsmodells selbst in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Sie wollen Gelder dorthin lenken, wo sie am stärksten gebraucht werden. Deswegen werden auch kleinere Unternehmen aufgenommen, die eine hohe direkte Wirkung entfalten, jedoch nur vereinzelt von den Bewertungsansätzen der ESG-Ratingagenturen erfasst werden. Auf diese Weise will die GLS Bank in ihrem Investmentfondsgeschäft die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft fördern und einen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen leisten.

Der Text stammt von altii – alternative investor information, veröffentlicht am 03.04.2020.

23. April 2020

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Die GLS Bank

Bei der GLS Bank ist Geld für die Menschen da. Die Genossenschaftsbank mit Sitz in Bochum finanziert und investiert nur in sozialökologische Unternehmen. Ihre Geschäfte macht sie umfassend transparent. Im Investmentfondsgeschäft bietet sie drei eigene Fonds im Gesamtvolumen von mehr als 500 Mio. Euro inklusive des B.A.U.M. Fair Future Fonds an (Stand 31.03.2020).

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Jakob Heidecke

Jakob Heidecke ist im Nachhaltigkeitsresearch der GLS Bank tätig. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Prüfung neuer Emittenten sowie dem kontinuierlichen Monitoring des GLS-Anlageuniversums. Zuvor absolvierte er einen M.Sc. Studiengang im Bereich Sustainable Finance an der Universität Maastricht.

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