Krisenszenarien gibt es schon so lange, wie es Aktienmärkte gibt. Diese Einbrüche, wie die Weltwirtschaftskrise 1929, das Platzen der Tech-Bubble in 2000 oder die Finanzkrise 2008, um nur einige besonders Dramatische zu nennen, sind an der Börse immer schon Teil des Spiels, und oft der Nährboden, aus welchem die nächste Hausse wächst.
Dieses Mal kommt viel zusammen Â
Das gute an der langen Börsenhistorie ist ja, dass man für ein aktuelles Krisenszenario relativ schnell immer eine ähnliche Konstellation in der Vergangenheit findet und dort auf die Suche nach Ableitungen gehen und seine Erkenntnisse daraus gewinnen kann. Und sei das Szenario vielleicht auf den ersten Blick noch so abstrakt, wie z.B. ein Vergleich der Spekulationsblase in der Tulpenkrise 1637 mit der Spekulationsblase am Immobilienmarkt in den USA im Jahr 2007. Lehrreich ist die Befragung der historischen Börsenvergangenheit immer.
Doch in der aktuellen Marktkrise im laufenden Jahr 2022 fällt eine solche Vergangenheitsableitung extrem schwer, da wir nicht über einen einzelnen Auslöser reden, sondern über einen vielschichtigen, beinahe toxischen, Cocktail an Problemen. Da wäre die immer noch andauernde weltweite Pandemie und die darüber entstandenen extremen Lieferkettenprobleme. Dann eine Inflation, wie man sie ewig nicht mehr gesehen hat. Vielerorts sogar einem zweistelligen Wert! Was natürlich auf den generellen Konsum durchschlägt. Und natürlich der Ukraine-Konflikt, welcher aber nicht losgelöst betrachtet werden darf. Denn eigentlich ist der dortige Ausbruch nur der aktuelle Höhepunkt einer viel größeren Tendenz. Nämlich einer Abkehr von der Globalisierung, zu einer Rückkehr zu egoistischen nationalen Interessen. Gesehen beispielsweise unter der Ära Trump in den USA oder natürlich auch in der Sichtweise von China zu Taiwan. Aber auch der BREXIT war sicherlich schon ein Schritt zurück in die beschriebene Richtung. Die Frage muss erlaubt sein, ob wir nicht global auf dem Weg zu einem völlig veränderten, neuen, nationalistisch geprägten Weltbild unterwegs sind?
Last but not least holen uns aber auch noch „die Sünden der Vergangenheit“ ein. Da wäre zum einen die massive Überschuldung der Staaten, die die verbliebenen Waffen auf Seiten der Notenbanken immer stumpfer werden ließen. Und natürlich auch die über die jahrelange Geldflutung künstlich unterstützte Kursrally an den Aktienmärkten, die teilweise völlig überzogene Bewertungen hervorrief, die nun im Jahr 2022 eine schlagartige und sehr dramatische Korrektur erfuhren.
Gelten die alten Börsenweisheiten noch?
Für jede einzelne dieser Problemstellungen könnte man sicherlich eine Parallele aus der Vergangenheit heranziehen und über deren Ableitungen philosophieren. Doch in dieser geschilderten Kombination tut man sich offen gesagt schwer an irgendein passendes historisches Szenario zu erinnern. Daher sei die Frage erlaubt, ob die normalen Faustformeln und Binsenweisheiten der Wertpapiermärkte auch in einer solchen Konstellation noch Bestand haben? Dem wollen wir uns nachfolgend über die verschiedenen Teilbereiche analytisch widmen.
„Die Renten werden es schon richten“
Fangen wir mal mit dem Einfachsten von allen an. Viele kurze Börsenkrisen lösten sich schnell wieder in Wohlgefallen auf, da parallel Hilfe über fallende Zinsen am Horizont erschienen. Das können wir uns wohl definitiv dieses Mal abschminken. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Seit 2015 warnt uns beispielsweise Eckhard Sauren vor „Der Zinsfalle“. Immerhin, nun scheint er spät, aber doch unumstritten, Recht zu bekommen. Die Zinsseite hilft uns also eindeutig nicht, sie verschärft das Szenario sogar erheblich, wie uns die exemplarische Entwicklung des REX (dt. Rentenindex) mit 8% Kursverlust über nur 8 Monate in 2022 zeigt. Auf der Zinsseite liegt also keine Rettung.
„Gold und Silber beflügelt jede Krise“
Dann müssen es wohl Gold und Silber richten. Bekanntlich ja DIE Krisenwährungen überhaupt. Wer nun aber in der aktuellen Krise Wunderdinge von den beiden Edelmetallen erwartet, der dürfte eher enttäuscht sein. Gold hat per Stichtag Ende August zwar in 2022 zumindest 7,5 % Plus „auf der Uhr“, was allerdings ein viel, viel geringerer positiver Effekt wie in anderen vorherigen Krisen(Finanzkrise 10.2007 – 03.2009 beispielsweise +32 %) ist. Silber enttäuscht mit -12 % in 2022 sogar noch mehr, obwohl unermüdlich und überall darauf hingewiesen wird, dass Silber für die qualitativ hochwertige Industrieproduktion absolut unersetzbar ist. Die Edelmetalle taugen also offensichtlich auch nur noch bedingt als Heilsbringer.
„Kryptowährungen sind das neue Gold“
Die Edelmetallentwicklung sei kein Wunder, hört man immer wieder, denn die neue „Krisenreserve“ seien doch längst Kryptowährungen. Wirklich? Dann muss da zumindest in der 2022er-Krise aber irgendetwas schiefgelaufen sein. Denn die beiden populärsten Vertreter dieser Rubrik, Bitcoin und Ethereum, verlieren jeweils sage und schreibe 55 % Ihres Wertes in den ersten 8 Monaten des Jahres 2022! Damit verdreifachen sie sogar quasi den Aktienmarktverlust und hätten bei einer potentiellen Streuung zwischen Aktien und Kryptos die Wertverluste hierüber sogar gehebelt! Sicherlich keine unwichtige Erkenntnis.
„Die Immobilienpreise kennen nur eine Richtung“
Spannend ist auch der Blick auf das Lieblingssegment der Deutschen – die Immobilie. Ging es hier jahrelang, getrieben über die niedrigen Baufinanzierungskonditionen und den Anlagenotstand auf der Zinsseite, preislich nur nach oben, brachte das Jahr 2022 auch hier den Wendepunkt. Verfechter der Theorie einer „Immobilienblase“ mögen sich nun bestätigt fühlen, doch der Auslöser kommt eher von der Nachfrageseite und ist eigentlich sehr logischer Natur.
Durch den generellen, starken Zinsanstieg haben sich die Konditionen am langen Finanzierungsende teilweise bis zu Verdreifacht! Wenn man nun für ein Immobiliendarlehen von beispielsweise 500.000€ nicht mehr 1 %, sondern 3 %, Zins zu zahlen hat, reden wir über eine monatliche Mehrbelastung von gut 830€! Da geht vielen Finanzierungsanfragen plötzlich einfach die Luft aus. Und wo weniger Nachfrage ist, da lassen sich auch keine „Immobilienmondpreise“ mehr durchholen und aus einem „Verkäufermarkt“ wird wieder ein realistisches Marktgefüge mit zurückkommenden Immobilienpreisen. Daher sehen wir in vielen Lagen im laufenden Jahr bereits lange nicht mehr für möglich gehaltene deutlich rückläufige Immobilienpreise. Sicher noch nicht überall, aber die Tendenz hat sich eindeutig und nachhaltig gedreht. Wichtig und gut zu wissen.
„Das hier nichts mehr läuft, ist doch klar. Schwellenländer muss man haben!“
Als letzter Hoffnungsträger in mancher Börsenkrise mussten oft die Schwellenländer herhalten. Logisch sinnvoll, da deren Entwicklung häufig unkorreliert von jener in den entwickelten Ländern verläuft. Im Jahr 2022 kann man sich diesen Blick allerdings auch recht schnell sparen, denn allein Osteuropa steuerte ein Minus von 62 % in die Gesamtentwicklung von fast noch humanen nur -8 % für die gesamten Emerging Market Bereich bei. Woher kam das Gegengewicht? Vielleicht ein wenig überraschend aus China, wie die Grafik zeigt. Mit knapp 4 % Plus per 31.8.22 schönte der asiatische Bereich die Gesamtentwicklung der Schwellenländer erheblich. Aber als Zugpferd für die Kapitalanlage in 2022 hätten also auch diese Länder in Gänze nicht getaugt.
„Fällt Butter, fällt Käse — steigt also gar nichts mehr?“
Was für eine triste und relativ ausweglos erscheinende Analyse bis hierhin. Aktien fallen, Rentenkurse fallen, Kryptowährungen halbieren sich, Emerging Markets schwächeln ebenso und Edelmetalle und Immobilien stagnieren eher. Wo soll da also die Rettung liegen? Läuft denn aktuell wirklich gar nichts?
Die „nicht nachhaltigen, bösen Assets“ erleben einen Höhenflug
So hoffnungslos ist es dann aber doch nicht. Jede Krise eröffnet auch Möglichkeiten, denen wir uns nun nachfolgend widmen. Eines vorab – es muss einem nur nicht jeder Gewinnerbereich gefallen. Denn aktuell bemüht sich ja die ganze Weltbevölkerung mit vereinten Kräften die UN Sustainability Goals zu erreichen. Und was sind die großen Profiteure der aktuellen Krise? Beispielsweise die „bösen und ungeliebten“ fossilen Brennstoffe. Der Ukraine-Konflikt lässt natürlich grüßen. So zeigt die Grafik die mit +55 % beinahe unfassbare Renaissance und Kursanstieg des Ölaktiensegmentes über die ersten 8 Monate des Jahres aufgrund der Energieverknappungsprobleme. Für Gas gilt natürlich Gleiches.
Aber auch andere eher ESG-unfreundliche Bereiche, wie z.B. Goldminen (u.a. Thema Kinderarbeit) erlebten ein enormes Recovery. Einzelaktien und Fondslösungen aus solchen Bereichen konnten in 2022 massiv profitieren.
„Der Greenback ist zurück“
Aber auch mit Währungen konnte man Geld verdienen. Wenn mitten in Europa ein massives Problem entsteht, profitieren natürlich andere Horte der Stabilität und der Euro verliert verständlicher Weise deutlich an Wert. Wer statt Euro einfach nur auf US-Dollar oder Schweizer Franken in 2022 gesetzt hat, wäre nun nach 8 Monaten um immerhin 6 % bzw. 13,5 % reicher. Für eine einfache Währungsspekulation zwischen Standardzahlungsmitteln schon eine enorme Wertverschiebung, die eigentlich keine wirkliche Überraschung ist und sogar relativ logisch auf der Hand lag.
„Das Infrastruktursegment blüht auf“
Zu guter Letzt noch ein Bereich, welcher sich eigentlich auch logisch ableiten lässt, aber irgendwie doch oft „unter dem Radar“ bleibt – der Infrastruktursektor. Wenn Länder sich deglobalisieren und Produktionsschienen um Abhängigkeiten abzubauen wieder verstärkt ins Inland verlegen, braucht es dafür natürlich umso mehr eine funktionierende Infrastruktur. Viele Versäumnisse der Vergangenheit werden nun schnellstmöglich versucht zu beheben und hohe Investitionen fließen in diesen Bereich und wichtige Projekte werden endlich verabschiedet und angegangen.
Davon profitieren dann gute Infrastrukturfonds, wie es die Grafik am Beispiel des beliebten Themenfonds aus dem Hause Mediolanum (WKN: A1T995) zeigt. Immerhin 7,5 % Plus stehen hier für das Jahr 2022 bis Ende August zu Buche. Und man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass die Entwicklung im Infrastrukturbereich noch längst nicht abgeschlossen ist.
„Eine Krise, wie keine zuvor“
Als Fazit unseres Streifzuges durch verschiedenste Aspekte und Assetklassen der aktuellen Börsenkrise kann man wohl mit Fug und Recht behaupten, dass die derzeitige Krise sich nicht in vorher bekannte Raster sortieren lässt. Klar, das wird vermutlich zu Beginn einer neuen Krise von jeder Krise behauptet, aber dieses Mal ist die Komplexität über ein Zusammentreffen verschiedenster Ereignisse schon ein ganz Besonderes. Manche Ableitungen/Lehren aus vorherigen Rückschlägen passen auf die heutige Situation, andere wieder überhaupt nicht.
Wir haben lange überlegt, was für ein Vergangenheitsszenario dem heutigen wohl nahe kommt? Auf der Hand liegt der Ausbruch der Spanischen Grippe vor über 100 Jahren, Mitte 1918, zeitgleich begleitet vom 1. Weltkrieg. Zwei starke Parallelen zur heutigen Situation, auch wenn die kriegerischen Auswirkungen heute Gott sei Dank viel begrenzter stattfinden. Die Wirtschaft lag ebenfalls weltweit recht brach. Doch siehe da – der Aktienmarkt (hier gemessen am Dow Jones) lief erst seitwärts und mit Kriegsende verständlicher Weise sogar trotz Pandemie stark nach oben. Passt also damit auch wieder nicht so ganz. Dennoch nehmen wir zumindest die Bestätigung aus der Vergangenheit mit, dass ein Kriegsende in der Ukraine hoffentlich auch heute den „gordischen Knoten“ durchschlagen könnte.
„Nichts dauert ewig“
Wenn es schon nicht richtig gelingt die heutige Krise zu greifen, dann lassen Sie uns zumindest mit einer positiven gesicherten Erkenntnis aus allen Marktrückschlägen schließen: Alle vorherigen Markteinbrüche (vielleicht mit Ausnahme des japanischen Börsencrashs in den 80er Jahren), waren nie von langer Dauer und im Nachhinein normalerweise stets exzellente Kaufgelegenheiten. Die Kunst lag aber natürlich immer darin, langfristig zu denken und den Mut zur Investition inmitten der Krise aufzubringen. Und damit der Optimist unter vielen Pessimisten zu sein.
Am Ende reicht es ja eigentlich auch, wenn nur dieser Punkt sich wieder als richtig erweisen würde. Denn dann weiß jeder aus der Erfahrung heraus, was nun zu tun ist.
15. November 2022
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Dirk Fischer
Dirk Fischer ist Geschäftsführer der Patriarch Multi-Manager GmbH in Frankfurt. Seit 2007 führt er den unabhängigen Produktentwickler, welcher für seine Konzepte stets die favorisierten Manager am Markt mit dem jeweiligen Asset Management seiner verschiedenen Produktideen beauftragt. Der Dipl.-Bankbetriebswirt begann seine berufliche Karriere im Private Banking der Deutschen Bank AG. Danach war er sechs Jahre als Vertriebsleiter und Prokurist beim Maklerpool Jung, DMS & Cie. AG für die Betreuung von unabhängigen Finanzdienstleistern verantwortlich. Seit 2014 ist er gefragter Referent in der exklusiven Rednervereinigung „Speakers Excellence“. Im Bereich der Top100-Unternehmer im Kreise von Persönlichkeiten wie Wolfgang Grupp, Dietmar Hopp oder Günter Netzer belegt er den Themenbereich Unternehmensaufbau und -entwicklung.