Brexit-Update: Britische Finanzszene alive and kicking?

Covid-19 hin, Brexit her: Die britische Finanzbranche lässt sich vom EU-Austritt vor bald einem Jahr nicht unterkriegen. Neue Börsenregeln, Nachhaltigkeitspflichten und mehr Jobs im Finanzsektor sollen beweisen, dass die Industrie „alive and kicking“ ist. Allerdings müssen den Ankündigungen an der Themse erst noch Taten folgen. Und der Streit um das Nordirland-Protokoll droht den mühsam ausgehandelten Brexit-Deal wieder zunichtezumachen.

Von Prügeleien an britischen Tankstellen, leeren Supermarktregalen bei Tesco und dem Appell an deutsche Einwohner mit Lastwagenführerschein, ihrem Gastland zu Hilfe zu eilen,1 liest man auch in der deutschen Presse. Zusammen mit einigen hausgemachten Skandalen und den höchsten Infektionszahlen in Europa (von Juli bis Mitte November) gibt das Vereinigte Königreich (United Kingdom, UK) derzeit leider nicht das beste Bild ab.

Doch die Finanzbranche auf der Insel scheint das nicht anzufechten. Sie sendete in den vergangenen Wochen unerwartete Lebenszeichen – von neuen einfacheren Börsen-Zulassungen ist ebenso die Rede wie von Nachhaltigkeitspflichten für britische Unternehmen und vielen offenen Stellen in der City. Vielleicht hält nach „Angst“, „Kindergarten“ und „Zeitgeist“ ja bald auch der schöne deutsche Begriff „Fachkräftemangel“ Einzug in englische Wörterbücher?

„Once-in-a-generation“-Chance

In der City, im Herzen Londons, waren aufgrund von Pandemie und Lockdown im internationalen Vergleich zuletzt immer noch relativ wenige Angestellte (57 Prozent im Oktober) an ihre Schreibtische zurückgekehrt.2
Doch das könnte sich demnächst ändern: Zwischen Juli und September lagen die Stellenausschreibungen für Jobs in der Londoner Finanzbranche mit rund 8.300 fast zweieinhalbmal über denen im dritten Quartal des Vorjahres.3 Ob es sich bei dem Rekord um einen von der Pandemie verursachten Nachholeffekt oder einen länger anhaltenden Aufwärtstrend handelt, bleibt abzuwarten.

Offene Stellen im Finanzsektor in London4

Quelle: Bloomberg

Die britische Regierung, allen voran Premier Boris Johnson und Finanzminister Rishi Sunak, haben vor, nach dem Brexit ihre eigenen Gesetze zu schreiben. So wurden vereinfachte Regeln zur Kapitalaufnahme für börsennotierte Firmen angekündigt5 und die Pflicht für alle größeren Unternehmen, schon ab 2023 ihre Bemühungen um CO2-Neutralität zu veröffentlichen. Eine bislang freiwillige Leistung ohne verbindliche Standards, kritisieren allerdings Umweltschutzorganisationen.6
Die neuen Vorschläge würden die Abschaffung des EU-Finanzdienstleistungsrechts vorsehen. Das wurde nach dem Brexit beibehalten, gilt aber nicht mehr als angemessen. Sunak nennt die neuen Regeln bereits eine „once-in-a-generation“-Chance.7

Erste Erfolge nimmt die britische Regierung gerne für sich und die Brexit-Kampagne in Anspruch. Etwa, dass in London die größte grüne Anleihe aller Zeiten mit einem Volumen von zehn Milliarden britischen Pfund aufgelegt wurde.8 Oder dass das internationale Zahlungs-FinTech Wise mit einer Rekordbewertung von elf Mrd. GBP im Juli sein Debüt an der Londoner Börse gab.9

Nachhaltigkeitsgremium kommt nicht nach London

Positive Nachrichten können der Finanzplatz London und die britische Regierung wegen des schleichenden Exodus‘ vieler Finanzinstitute, Mitarbeiter und Assets auf den Kontinent gut gebrauchen. Denn der Brexit-Deal, an Heiligabend 2020 verkündet, klammert Dienstleistungen weitgehend aus – und damit auch die mächtige britische Finanzdienstleistungsbranche.

Die trug 2019 (dem letzten Jahr, für das diese Angaben vorliegen) immerhin 132 Mrd. GBP oder 6,9 Prozent zur gesamten britischen Wirtschaftsleistung bei.10

Seit Jahresbeginn – dem ersten Jahr der selbst proklamierten britischen Souveränität – hat im Aktiengeschäft meistens Amsterdam die Nase vorn.11 Die irische Fluglinie Ryanair will ihre Börsennotierung in London im Dezember zugunsten von Dublin aufgeben. Vorschriften, dass Fluggesellschaften mehrheitlich im Besitz von EU-Bürgern sein müssen und das geringe Handelsvolumen der Aktien an der Londoner Börse, rechtfertigten die Kosten einer Notierung in Großbritannien nicht mehr, lautet die Begründung.12 Und kürzlich erhielt Frankfurt den Zuschlag für den Sitz des neuen International Sustainability Standard Boards – nicht London.13

Äquivalenz-Abkommen lässt weiter auf sich warten

Das ganz große Gerangel – das um den möglichen Umzug der Billionen Euro umsetzenden Clearing-Häuser von der Themse in die EU – hat erst angefangen. Die EU hat bislang zwar nur eine von zwei Ausnahmeregelungen in der Finanzbranche für das Derivate-Clearing in London akzeptiert (die andere war eine befristete Erlaubnis für irische Wertpapiertransaktionen). Doch diese Ausnahme läuft im Sommer 2022 ab. Der Chef der Bank of England, Andrew Bailey, warnt im Falle eines Umzugs bereits von einer „echten Bedrohung für die Finanzstabilität“.14

Nach wie vor steht ein sogenanntes Äquivalenz-Abkommen, also die gegenseitige Anerkennung der Standards in der EU und in UK, für die meisten Industriezweige aus. Im März einigten sich die beiden Parteien darauf, Gespräche für die Finanzindustrie formell aufzunehmen. Aber die EU hat es nicht eilig damit.

Droht wieder „No deal”-Brexit?

Äquivalenz in der Finanzbranche ist zum Faustpfand in einem viel größeren Kuhhandel zwischen der rund 340 Millionen Bürger großen EU und dem 67-Milllionen Einwohner zählenden Großbritannien geworden. Ein Handel, in dem es auch um Rechte französischer Fischer im Ärmelkanal und die Auflagen des Nordirland-Protokolls geht.

Dieses diplomatische Konstrukt belässt Nordirland zwar in der Zoll-Union mit der EU, verlegt aber die Grenze zur EU in die englische See und schreibt Kontrollen für Warentransporte aus UK vor. Dadurch wird eine harte und politisch sensible Grenze zwischen der Republik Irland (EU) und Nordirland (UK) vermieden. Das Protokoll ist der britischen Regierung im englischen Südosten aber ein Dorn im Auge, und sie drohte zuletzt unverhohlen damit, es zu kündigen.

„Äquivalenz in der Finanzbranche ist zum Faustpfand in einem viel größeren Kuhhandel zwischen der EU und Großbritannien geworden.“

Hagen Gerle

Sollte die Regierung in London tatsächlich die, von Beginn an umstrittene Vereinbarung kippen, hätte die EU das Recht zu Vergeltungsmaßnahmen. Das Arsenal der Grausamkeiten reicht von strengeren Auflagen für die Wareneinfuhr über die Streichung tariffreien Handels bis zur Einfuhr von Zöllen. Solche Maßnahmen würden Nordirland und seine Versorgung sowie den britischen Innenhandel hart treffen – mit schwer absehbaren Folgen für die Abwertung des britischen Pfunds, die Inflation und die gesamte Wirtschaft.15

Der Streit hat das Zeug dazu, das ganze so mühsam vereinbarte Handelsabkommen zu Fall zu bringen.16 Dann wäre ein „No deal“-Brexit wieder das Gebot der Stunde. Back to square one.

 “Penalty for not shutting gate £2”

Der Brexit und die Folgen des Nordirland-Protokolls können das Vereinte Königreich noch ganz schön teuer zu stehen kommen/Foto: Hagen Gerle

 

 

 

30. November 2021

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1 Quelle: Spiegel.de, 01/10/2021: „Britische Regierung fordert deutsche Einwohner zum Lkw-Fahren auf
2 Quelle: Jefferies Property & Real Estate report, 07/10/2021: Global recovery
3 Quelle: Bloomberg.com, 07/10/2021: “London finance job postings set fresh record in third quarter
4 Quelle: Bloomberg.com, 07/10/2021: “London finance job postings set fresh record in third quarter
5 Quelle: Bloomberg.com, 12/10/2021: “U.K. plans to ease capital raising in post-Brexit overhaul
6 Quelle: BBC online,03/11/2021: COP26: “UK firms forced to show how they will hit net zero
7 Quelle: The Guardian, 09/11/2021: “Rishi Sunak unveils post-Brexit financial regulation proposals
8 Quelle: Institutional-money.com, 22/09/2021: „Größter Green Bond aller Zeiten: Licht und Schatten
9 Quelle: Reuters.com, 07/07/2021: “Wise valued at $ 11 billion in record London direct listing
10 Quelle: House of Commons Library, 01/02/2021: “Financial services: contribution to the UK economy
11 Quelle: Neue Zürcher Zeitung, 16/10/2021: „Brexit kostet Finanzplatz London die Krone – aber nicht die Zukunft
12 Quelle: The Guardian, 19/11/2021: “Ryanair to quit London Stock Exchange in December over Brexit
13 Quelle: Citywire.de, 05/11/2021: „Finanzplatz Frankfurt wird Zentrum für ESG-Standards
14 Quelle: City A.M, 24/02/2021: “BoE boss warns of EU move to take trillions of pounds of derivatives clearing away from the City
15 Quelle: Bloomberg.com, 18/11/2021: “Brexit dispute risks fanning inflation and pushing BoE rate rise
16 Quelle: The Irish Times, 06/11/2021: “Major warns against ‘colossally stupid’ triggering of article 16 in Brexit row

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Autor

Hagen Gerle

Hagen Gerle ist Spezialist für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen aus der Finanzbranche. Der gelernte Tageszeitungsredakteur und ehemalige Kommunikationsmanager von Fidelity Investments berät seit 1994 vorrangig ausländische Fondsgesellschaften, die seit kurzem im deutschen Markt tätig sind oder ihren Markteintritt dort noch planen.
2002 gründete er sein eigenes Beratungsunternehmen in Frankfurt/Main. Gerle Financial Communications bietet Kunden strategische Beratung, Medienarbeit, Investment writing und die Erstellung von Unternehmenspublikationen. 2011 siedelte Hagen Gerle mit Familie und Geschäft in den Südwesten Englands um, von wo er Finanzunternehmen in verschiedenen Ländern betreut.

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